Die Entdeckung der Langsamkeit … oder: Vom Trend eines entschleunigten Lebens

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Jan Kristof Arndt 28 März 2019 – Lesedauer: 5:55

arpe diem – Nutze den Tag! Wer kennt ihn nicht, diesen Sinnspruch von Horaz, der sich auf mindestens einer Fußmatte in jedem Mehrfamilienhaus lesen lässt und die intellektuelle Tiefe seines Besitzers dokumentieren soll [frei nach dem Motto: Hier wohnt ein wirklich kluger und belesener Mensch … Komm doch herein]?! Aber was bedeutet das eigentlich … also im Detail? Soll ich den Tag nutzen, um möglichst viel zu arbeiten? Oder gerade nicht: und stattdessen mit meinen Freunden um die Welt reisen, auf jeder Party bis zum Ende bleiben, an hundert Abenden ins Kino gehen und [ich brauch noch irgendetwas, was sich auf „gehen“ reimt, dann könnte dieser Satz tatsächlich etwas werden] und … hmmm … mir gelegentlich mal eine Ausstellung ansehen?! [klingt schrecklich, aber egal]. Also worum geht’s, lieber Herr Horaz?

Gemeint war es wohl als Empfehlung für ein erfülltes Leben, aber irgendwie klingt es heute eher nach einem Befehl als einem gut gemeinten Ratschlag: „Nutze den Tag! Sonst gibt’s ein Donnerwetter!!!“ Oder anders: „Wenn Du nicht alles aus Dir rausholst … Wenn Du nicht jeden Tag Dein Bestes gibst, landest Du schneller in der Schlange vor dem Arbeitsamt, als Dir lieb sein kann!!!!“

Viele erwarten, dass man möglichst schon mit 21 seinen ersten Abschluss hat, 3 Sprachen spricht und mindestens 3 Jahre Berufserfahrung aufweisen kann. Wenn man sich entscheidet, noch seinen Master machen zu wollen, kommen jede Woche zehn Business Cases auf einen zu, die einem vermitteln, dass schlafen völlig überschätzt wird und man seine Zeit doch lieber damit verbringen sollte, die Probleme dieser Welt zu lösen [oder vielmehr die der Unternehmen, die hinter diesen Cases stehen]. Und dann –wenn man fertig ist und einen Tag stolz auf sich sein durfte– beginnt das richtige Leben. Und in diesem arbeiten viele 14 Stunden für ein Gehalt, für das sie eigentlich nicht unbedingt hätten studieren müssen. Pausen werden heimlich gemacht und Überstunden irgendwann gar nicht mehr aufgeschrieben; werden ja doch nicht bezahlt. Dann irgendwann –wenn man noch kann– wird man befördert. Oder auch nicht. Und so dreht sich das Rad des Lebens immer schneller. Und schneller. Und schneller. Und am Ende dieses Prozesses steht nicht selten Herr Burnout und guckt uns an mit seinen leeren Augen. Haben Sie sich schon mal mit jemandem unterhalten, der an den Nebenwirkungen unserer Welt erkrankt ist? Ich schon. Nur so viel: Heute geht’s ihm wieder gut!

Tatsächlich gehen 41,4% aller Frührenten und 12,5 % aller Krankschreibungen auf psychologische Leiden zurück. Dabei hat sich die Anzahl burnout-bedingter Krankheitstage in den letzten 10 Jahren fast verzwanzigfacht [Quelle: Gesundheitsreport der BKK Versicherung], wobei auffällt, dass Frauen häufiger betroffen sind als Männer, aber lassen Sie uns jetzt bitte keine Geschlechterdiskussion daraus machen. Darum geht’s nicht!

Zu den häufigsten Ursachen gehören neben der Arbeit, finanzielle Sorgen, Konflikte mit dem Lebenspartner und … auch wenn das komisch klingen mag … Fahrten zu den Hauptverkehrszeiten. Wer sich an Micheal Douglas in „Falling Down“ erinnern kann, hat wahrscheinlich ein gewisse Vorstellung. Und auch der stetig zunehmende Innovationsdruck spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Kunden wollen ständig überrascht und begeistert werden. Wenn man da als Anbieter nicht hinterherkommt, wird man ausgetauscht. So einfach ist das. Das Wettbewerbsklima in vielen Branchen ist ganz schön rau geworden und nicht jeder weiß und schafft es, damit umzugehen.

Die am häufigsten auftretenden Symptome von Burnout sind eine hohe Infektanfälligkeit, plötzlich auftretende Kopfschmerzen und das permanente Gefühl erschöpft zu sein; einfach nur erschöpft.

Dieses Phänomen findet sich im Übrigen nicht nur bei uns Erwachsenen. Auch Kinder und Jugendliche sind davon betroffen. Während die ersten zwei Jahre in der Schule noch der Eingewöhnung dienen, lernen Schüler ab der dritten Klasse, dass eine Drei weit mehr als nur eine Zahl ist, und –zumindest wenn sie häufiger auftritt– über die gesamte weitere Schullaufbahn entscheiden kann. Eigentlich braucht man möglichst viele Einsen, um sich einer Empfehlung fürs Gymnasium sicher sein zu können … nur dass diese heute schwerer zu erreichen sind als jemals zuvor. Man muss (zumindest in der Grundschule, die meine Nichte besucht) tatsächlich alle Aufgaben richtig haben –und zwar komplett richtig– um die Bestnote zu bekommen. Ein einziger Fehler, eine kleine Abweichung vom Optimum und man kann bestenfalls noch eine Zwei erreichen; selbst an der Uni ist man da großzügiger. Und wenn man es auf‘s Gymnasium schafft, dann erwartet einen da das G8-Abitur … und das hat schon viele (Schüler, Eltern und Lehrer) an den Rand der Verzweiflung gebracht.

Nun gibt es die Tendenz, dass mehr und mehr Menschen sich davon lossagen … dass sie den ständigen Stress als zu stressig empfinden und bereit sind, neue Wege auszuprobieren. Und da eine bestimmte Anzahl an Menschen einen Markt definiert, sollten wir uns überlegen, was das für uns als Unternehmen bedeutet und wie wir auf diesen „Anti-Trend“ reagieren können.

Früher war es irgendwie cool, ständig unter Strom zu stehen. „Gott, bin ich beschäftigt momentan! Ich weiß gar nicht, wie ich das alles schaffen soll!“ Und wenn man dann noch Porsche fuhr … ja, dann hatte man es wirklich geschafft. Aber wo einem damals anerkennend auf die Schulter geklopft wurde, da erntet man heute von den meisten nur noch ein aufmunterndes Kopfnicken und ein wohlgemeintes „Wird schon wieder.“ Wer wirklich cool ist, verlässt spätestens um 19.00 Uhr das Büro, um mit sich, seiner Familie oder seinen Freunden Zeit zu verbringen. Wer Anerkennung will, muss schon mehr anzubieten haben als nur einen gut bezahlten Job; vor allem, wenn dieser ihn an den Schreibtisch kettet, während am Fenster das Leben an ihm vorbeizieht (der Satz könnte aus einer Liebesschnulze stammen, ich weiß).

Unterstützt wird diese Entwicklung von einer zunehmenden Gesundheitsorientierung (kein ganz neues Phänomen). Jeden Tag sprießt irgendwo ein neues Fitnesscenter aus der Erde. Ständig werden wir mit irgendwelchen neuen Abnehmstrategien konfrontiert. Das geht fast so weit, dass es schon wieder in Stress ausartet. Aber es gibt auch andere Angebote, die einen darin unterstützen, sich zu entspannen und mehr Bewusstsein zu entwickeln, ohne dass man mindestens 20 Kilometer in der Woche durch die Natur hetzen muss und maximal 3 Reiswaffeln essen darf. Entdecke die Langsamkeit ist das Motto dieser Bewegung, in der es vor allem um eine bewusste und entschleunigte Lebensgestaltung geht.

Die Anhänger dieser … na, sagen wir mal Philosophie … essen gesünder und schlafen ruhiger. Sie sind oft ausgeglichener und begreifen ihr Leben nicht mehr als Wechselspiel aus Befehl und Gehorsam … Befehl und Gehorsam … Befehl und … na ja, Sie wissen schon.

In Vorbereitung auf diesen Beitrag, aber auch aus purer Neugierde habe ich vor kurzem ein Live-Cooking-Seminar mit dem Titel „Bewusstes Kochen“ besucht. Gastgeberin der Veranstaltung war Harriet Oerkwitz – Hamburgs Expertin für Stille & Bewusstsein. Der Auftrag bestand darin, im Team gemeinsam mit seinem Los-Partner –und unter den sachkundigen Augen eines Sternekochs – ein bestimmtes Rezept nachzukochen. Dabei ging es weniger um das Kochergebnis (so lecker die Gerichte auch waren) als vielmehr um das Thema Achtsamkeit – im Umgang miteinander, in der Auswahl der Zutaten und der Zubereitung der Gerichte. Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, dass man Essen auf so vielfältige Weise erleben kann. Und der Wein war auch lecker.

Burnout ist im Übrigen kein ganz neues Phänomen und mit Sicherheit kein Problem allein unserer Generation. Schon Kafka litt –wie zahllose andere Anfang der 1900er Jahre– an Neurasthenie … was im Wesentlichen dasselbe ist. Damals wie heute hatte man das Gefühl, dass sich die Welt zu schnell für einen dreht und man jeden Moment hinfallen könnte. Früher lag es an den Folgen der industriellen und heute an denen der digitalen Revolution. Viele Leute haben einfach das Gefühl, nicht mehr mitzukommen.

In der Politik wird über eine Anti-Stress-Verordnung diskutiert, aber staatlich anordnen lässt sich so etwas natürlich nicht. „So, Sie haben sich jetzt zu entspannen, sonst …“ und das bringt uns dann wieder zum Donnerwetter. Die Verantwortung liegt hier vor allem bei den Unternehmen. Wer seinen Mitarbeitern keinen Platz einräumt nachzudenken, braucht sich nicht zu beschweren, wenn diese keine guten Ideen haben … oder diese nicht einbringen wollen. Wer seinen Mitarbeitern nicht erlaubt, Abstand zu der täglichen Arbeit zu gewinnen, der braucht sich nicht zu wundern, wenn seine Mitarbeiter betriebsblind werden und einen Bauch ansetzen; und zwar im Kopf. Wenn es nicht nur geduldet, sondern gefördert wird, auch mal eine Pause einzubauen, abzuschalten und den Moment zu genießen, erleben wir eine ganz neue Ausprägung von Arbeit – eine, von der alle Betroffenen profitieren werden. Gerade in den Skandinavischen Ländern finden wir Arbeitszeitmodelle, die dem Gedanken einer funktionierenden Work-Life-Balance Rechnung tragen, ohne dass die Produktivität darunter leidet. Ich weiß, am liebsten erfinden wir hier in Deutschland die Dinge ja selbst, aber manchmal darf man sich ruhig auch von anderen inspirieren lassen.

Nun ist das ja kein Blog, der sich mit möglichen Strategien gesunder Lebensführung auseinandersetzt, sondern sich v.a. an Personen wendet, die sich für Trends & Innovationen interessieren (ob beruflich oder privat). Insofern möchte ich Ihnen noch einen Trick verraten, wie Sie mit dem in diesem Beitrag behandelten Thema umgehen können: Setzen Sie vor Ihr Produkt, was auch immer das sein mag, das Wort „Entspannung“ und kombinieren Sie die Begriffe zu etwas Neuem. Nehmen wir mal an, Sie sind Optiker und finden den Trend hin zu einem entschleunigten Leben nicht total langweilig … wie könnte Ihr Produkt aussehen? Was müsste eine Entspannungs-Brille leisten, um den an sie gestellten Ansprüchen gerecht zu werden? Haben Sie eine Idee? Diese Mini-Technik lässt sich im Übrigen auf fast alles und jeden Bereich anwenden [nur für den Fall, dass Sie kein Optiker sein sollten].

Versicherungen beispielsweise könnten Anreize für ein entschleunigtes Leben entwickeln und die Höhe des zu zahlenden Beitrages davon abhängig machen, inwieweit jemand bereit ist, den Vorgaben zu folgen und von Angeboten Gebrauch zu machen. Diese könnten eingebettet sein in ein Spiel, einen Wettbewerb, in dem die Teilnehmer versuchen müssen, so viele Punkte wie möglich zu sammeln. Wer gewinnt bekommt … hmm … zum Beispiel eine Reise. Aber bitte nicht auf eine der von den Versicherungen so gerne gebuchten „Liebesinseln“ in der Karibik; gibt ja schließlich auch noch andere Ziele.

Verstehen Sie mich nicht falsch, langsam ist nicht immer gleichbedeutend mit besser. Es gibt auch ein zu langsames Leben. Aber manche Entschleunigungstechniken helfen uns, ein bisschen bewusster und entspannter durchs Leben zu laufen … oder vielmehr zu gehen, ohne gleich in die Welt der Esoterik abzurutschen und jeden Tag ein Packung Duftkerzen abzufackeln.

Also: Carpe Diem – Aber sinnvoll! Was das im Einzelfall bedeutet, muss jeder für sich selbst herausfinden.

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Bis bald
Jan Kristof Arndt
Autor: Jan Kristof Arndt

Innovationsberater und Autor „Von Regelbrüchen … oder der Kunst, merkwürdig zu sein“

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